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Arat Himalayan im Gespräch mit Till Hass 

AH Beim Hören Ihrer Klavierstücke fällt auf, dass fast immer das rechte Pedal gehalten wird und der Klang lange präsent ist, bevor er komplett verklungen ist. Was hat es damit auf sich? 

TH Nun, ehrlich gesagt hatte ich schon immer eine Scheu davor, den Klang zu "töten", d.h. ihn willentlich zu beenden. Ich empfinde es als natürlicher, wenn der Klang zuende kommt, indem er ausschwingt, gewissermassen der Kosmos sich die Schwingung der Saite selber zurückholt. 

AH Das heisst aber doch, dass alle Töne, die angeschlagen werden, erstmal eine ganze Weile nachklingen und dabei auch gleichzeitig mit allen folgenden Tönen zusammen klingen. Hat das einen Einfluss auf den Tonsatz? 

TH Auf jeden Fall: mich haben schon immer Harmonik und Klangfarben von Mixturklängen/Akkorden interessiert. Ich gehe meist von einem akkordischen Zusammenklang oder harmonischen Komplex mehrerer Töne aus. Alles Melodische bewegt sich innerhalb dieses harmonischen Feldes. Wichtig hierbei ist für mich, dass die Gesamtharmonien klar vernehmbar sind.

AH Was bedeutet das genau? 

TH Jeder Klang muss sehr gut ausgehört sein, damit er in sich stimmt, denn nur so kann er leuchten. Das heisst grundsätzlich - und das ist für mich sehr wichtig - dass hohe Töne immer eine Spur intensiver, quasi länger klingend sein müssen als tiefe. Habe ich z.B. einen Klang, dessen Töne relativ weit auf der Klaviatur verteilt ist, so dass man nicht alle gleichzeitig greifen kann, muss ich herausfinden, in welcher Reihenfolge die Töne erklingen müssen, um am Ende zu einer richtigen Balance zu kommen. Da kann es sein, dass ein hoher Ton mehrfach angeschlagen wird, tiefe Töne lontano wie in einem entfernten Raum gedacht werden müssen. Auf diese Weise ergibt sich also innerhalb eines harmonischen Feldes eine bestimmte Abfolge der Töne, die dann auch einen melodischen Charakter bekommen können. 

AH Das bedeutet, Sie entwickeln Ihre Stücke ausgehend von einem akkordischen Klang, einem harmonischen Feld?

TH Ja. 

AH Ist die Tatsache, dass diese harmonischen Felder dann im rechten Pedal lange nachklingen vielleicht ein Grund dafür, dass die Stücke oft sehr langsame Tempi haben?

TH In gewisser Weise ja, allerdings würde ich nicht von Tempo sprechen, sondern eher von Zeit, die der Klang braucht, um zu klingen. Jeder Klang, jeder Akkord - sei er einfach oder hochkomplex - trägt in sich eine bestimmte Färbung, die den persönlichen Charakter bildet. Ernest Ansermet hat den Begriff "affektiver Wert" geprägt, um darzulegen, dass - und auf welche Art und Weise - melodisch zu hörende Intervalle mit dem menschlichen Hörbewusstsein korrespondieren. Dieses Phänomen ist ebenso bei Akkorden bzw. harmonischen Komplexen und Zusammenklängen wirksam. Zwischen dem Klang und dem Hörer entsteht eine Korrelation, die sich - vereinfacht ausgedrückt - als eine „gefühlsmässige Wahrnehmung“ einstellt.  Je komplexer die Klänge, je differenzierter gewissermassen die Ingredientien, desto subtiler ist auch die Färbung der erlebbaren "Emotion". Um dies in Reinheit wahrnehmen zu können braucht man eine gewisse Zeit. Diese Zeit versuche ich den Klängen zuzugestehen. Es gibt heutzutage viel Musik, bei der sich in sehr kurzer Zeit extrem viel ereignet, wo in kürzester Zeit unzählige Klänge und Töne erscheinen, die man ihrem Wesen nach von vornherein auf diese Art gar nicht wahrnehmen kann, weil das Ohr die Zeit dazu nicht bekommt, die Klänge zu einem sinnergebenden Ganzen zu ordnen - was dann zu einem chaotischen Höreindruck führen kann.

AH Aber dienen diese vielen Klänge und Töne, wie Sie sagen, nicht dem dramatischen Ausdruck? Sind sie nicht bewusst eingesetzt, um in einer komplexen Textur zB. einen bestimmten Gestus auszudrücken? 

TH Das mag sein. Mein Standpunkt ist jedoch ein anderer: ich nehme nicht Töne oder Klänge und forme sie zu einer "Geste", einem "Thema" oder einer "Struktur", um mit ihnen etwas auszudrücken, das ich ausdrücken möchte. Mich interessiert es, den Klängen zu ermöglichen, "sich selbst zu sein", und nicht eine Zutat, ein Mittel für eine Struktur, die letztlich etwas ausdrücken soll, was diese Klänge nicht sind. 

AH Das bedeutet aber doch, dass Sie eigentlich sehr abstrakt denken, was den Klang betrifft.

TH Ja und nein: Ja, wenn es sich auf die Tatsache bezieht, dass die Klänge für sich selbst existierend sind und nicht Teil einer Struktur, eines Themas, einer Geste, wodurch etwas ausgedrückt werden soll. Wenn ein Maler ein monochromes Bild malt, lässt er die Farbe von sich selbst künden. Er benützt sie nicht, um mit ihr etwas Bildhaftes, Beschreibendes, Abbildendes zu erschaffen. So etwas wird im Allgemeinen abstrakt genannt. Im eben erläuterten Sinne ist es das auch. Aber auf der anderen Seite - und damit komme ich zum "nein" meiner Antwort - ist es sehr un-abstrakt, dass jede Farbe, jeder Klang, denen wir eine eigene Entität zugestehen, auf diese Weise sehr konkret ist und dem eigenen Wesen nach wirken kann.

AH So gesehen müsste man Begriffe wie "abstrakt" und "konkret" neu definieren: letztlich bedeuten sie auf andere Art und Weise das Gleiche.

TH Ich glaube, dass es letztlich etwas "Abstraktes" nicht gibt. Selbst eine noch so "abstrakte" Form: wenn z.B. ein Maler ein Bild malt, das lediglich aus einer schwarzen Linie von links nach rechts besteht, ist diese Linie sehr konkret und kann und soll in dieser Konkretheit wahrgenommen werden. Was mich als "Abstraktion" interessiert, ist das Loslösen von einem Ausdruck, einem Abbild, das der Klang oder die Farbe von etwas anderem als sich selbst macht. Ich möchte die Dinge so wahrnehmen, wie sie sind. Ein Stein ist ein Stein und nichts anderes. Er erzählt mir von sich selbst und nichts anderem. 

AH Sie sprechen von „wahr-nehmen“. Das legt die Vermutung nahe, dass Sie auf der Suche sind nach etwas "Wahrem", "Reellen", nach etwas Unumstösslichen, das in sich stimmig ist? 

TH Absolut! Etwas finden, das Bestand hat in dem Sinne, dass es unbelastet ist von Meinungen, Ausdruck, aufoktroyierter Bedeutung, etwas, das unverbogen und von Menschen unangetastet "es selbst" ist. 

AH Ich möchte zurückkommen auf Ihre Kompositionen. Speziell auf Ihre Arbeiten für mehrere Klaviere. Sie haben einige Stücke für die Kombination von 4 Klavieren geschrieben, andere für 6, 8, eines sogar für 72 Klaviere. Wie kamen Sie zu diesen doch recht ungewöhnlichen Ensembles?

TH Die ersten Stücke für mehrere Klaviere waren für 4 Klaviere. Wenn ich zurückdenke, stelle ich fest, dass ich schon sehr früh fasziniert war von der Überlagerung ähnlicher oder scheinbar gleicher Strukturen. Sie kennen das: wenn man z.B. im Gebirge ist und von einem Berg aus den Blick schweifen lässt, dann sieht man um sich herum andere Berge und dahinter wieder andere Bergketten und dahinter wieder andere usw. Geht man dann auch nur einen Meter zur Seite, so ändert sich die Perspektive. Die Landschaft bleibt dieselbe, aber man hat ein neues optisches Erlebnis. Oder wenn man unter einem Baum steht und in die vom Wind bewegten Blätter sieht: die Bewegungen der Äste, Zweige und Blätter sind zwar immer “ähnlich“, wiederholen sich aber niemals exakt gleich. Das ist gewissermassen ein Ausgangspunkt für meine Überlagerungen. Für mich funktioniert das am Besten mit den gleichen Instrumenten. Die Kombination von vier Klavieren ergab sich auch aus der Tatsache, dass es in einem traditionellen Konzertraum möglich ist, die Instrumente so aufzustellen, dass der Klang aus vier Himmelsrichtungen kommen kann. Aus dieser Räumlichkeit der Klänge haben sich dann im Laufe der Zeit auch meine Klanginstallationen entwickelt. 

AH Wenn man die Stücke für vier im Raum verteilte Klaviere hört, ist es faszinierend, zu erleben, wie Sie mit relativ einfachen Mitteln diese räumlichen Überlagerungen der Klänge erreichen! Beim mehrfachen Anhören dieser Werke habe ich festgestellt, dass es im Gesamtklang immer kleine Veränderungen bei den Überlagerungen der Klänge gibt, die von den einzelnen Instrumenten gespielt werden. Ist das zufällig oder Absicht? 

TH Es ist beabsichtigter, für das Stück essenzieller Zufall. Die Stücke sind so angelegt, dass jeder Spieler unabhängig von den Mitspielern spielt, das Tempo wird zwar festgelegt, aber da der Mensch keine Maschine ist, ergeben sich vor allem innerhalb der teilweise langen Pausen, die jeder Part hat, individuelle Abweichungen vom Grundtempo. Das hat zur Folge, dass die Überlagerung der Stimmen niemals gleich sein wird, - und dass es nie eine exakte Wiederholung einer Version gibt. So ist man in der Lage, diese Stücke jedesmal als neu zu hören, da sie jedesmal neu entstehen.

AH Das heisst, Sie sind nicht daran interessiert, eine bestimmte Wiedergabe, eine bestimmte Version der Stücke exakt festzulegen, sondern lassen den gesteuerten Zufall mitwirken. 

TH So könnte man es sagen. Oder, um ein weiteres Bild aus der Natur zu verwenden: wenn man am Meer sitzt und die Wellen betrachtet, die sich auf den Felsen brechen, sieht man die Felsen, die immer dieselben sind und das Meer, das stets das Meer ist. Die Wellen sind scheinbar gleich oder ähnlich, aber niemals in Form, Gestalt und Zusammensetzung dieselben, es ist immer Variation. So ähnlich ist das bei meinen Überlagerungen auch: die zu spielenden Töne sind dieselben, aber die Zusammensetzung der Gesamtstruktur ist nie die gleiche. 

AH Es ist also Teil Ihres Konzeptes der Stücke, dass sie jedesmal etwas anders erklingen. 

TH Unbedingt! Es muss sein wie die Natur. Stillstand wäre das Ende. 

AH Woher nehmen Sie Ihre Ideen, oder anders gefragt: was inspiriert Sie?

TH Das kann vieles sein. Selbstverständlich ist es die Natur - sind es Gesetzmässigkeiten, kosmische Vorgänge, die sich z.B. auch in grundlegenden philosophischen Gedankengängen widerspiegeln. 

AH Was meinen Sie damit? 

 

TH Zum Beispiel wenn man über Zeit nachdenkt können Gedanken aufkommen wie: „warum erlebe ich die Zeit als etwas Lineares?“ oder „eigentlich existiert nur das Jetzt - gestern war ein „jetzt“ und morgen wird ein „jetzt“ sein, aber jetzt ist stets nur der jetzige Moment. Wann also ist „Jetzt“? Ist „Jetzt“ immer, zu jedem „Zeitpunkt“? Ist also die Unendlichkeit der Zeit in all ihrer Fülle im „Jetzt“? In jedem Augenblick?“

AH Wenn ich das richtig erinnere, war diese Art von Gedanken grundlegend für Ihre Klanginstallationen. 

TH Ja, mich beschäftigte die Frage, ob es möglich ist, neben der Musik, die zeitlich linear sich entwickelt (also alle Musik, die über Jahrhunderte entstanden ist) etwas zu schaffen, was nicht diese Linearität als Grundlage hat. Bei meinen Installationen muss man sich auf den Moment einlassen und das Konzept, dass sich eine Musik von A über B nach C entwickelt beiseite lassen. Bei den Installationen arbeite ich meist mit einem Klang, der aus mehreren im Raum verteilten Klangquellen kommt, wobei jede Klangquelle selbständig ist und somit sich in jedem Augenblick eine neue rhythmische und räumliche Konstellation der Klänge ereignet. 

Wenn man es schafft, das tradierte Konzept linearer Musik zu verlassen, dann begibt man sich in die Lage, in jedem Augenblick etwas Neues, Einmaliges und Nichtwiederholbares zu erleben. Meinen Beobachtungen und Erfahrungen nach kann man auf diese Weise das Zeitgefühl, an das wir gewöhnt sind, vorübergehend komplett verlieren. 

AH Wie sieht es bei Ihren Kompositionen mit Stimme aus? Wie bringen Sie Wort und Ton zusammen?

TH Wenn ich Texte oder Gedichte verwende, dann muss neben der Aussage - die ich vertreten können muss - immer auch ein bestimmtes Licht, müssen bestimmte Farben in den Worten sein, die mit meinen Klängen korrespondieren. Es ist fast immer so, dass die Texte zur Musik kommen - nicht umgekehrt. 

AH Heisst das, Sie haben zuerst eine gewisse Idee der Musik und dann suchen Sie einen Text dazu?

TH Sagen wir es so: wenn ich mich mit bestimmten Klängen am Klavier beschäftige und allmählich ein Stück entsteht, passiert es, dass ich z.B. Gedichte lese und sie als ein gewisses Äquivalent dieser Musik erlebe - dann ist das eine Grundlage, auf der Lieder oder andere Werke mit Text entstehen können. 

AH Sie suchen also nicht Ihre Texte zuerst und denken dann daran, sie zu vertonen?

TH Genau: ich vertone die Gedichte nicht - die Gedichte „vertexten“ die Musik. 

 

 

Till Hass, Composer - Foto: Alexander Mayer
Till Hass, Composer - Foto: Till Hass
Till Hass - mikrotonale klanginstallation - Foto: Alexander Mayer
Till Hass, Composer - Foto: Till Hass
Till Hass, Composer - Foto: Till Hass
Till Hass, Composer - Foto: Alexander Mayer
Till Hass, Composer - Foto: Till Hass
Till Hass, Composer - Foto: Alexander Mayer
Till Hass, Composer - Foto: Alexander Mayer
Till Hass, Composer - Foto: Alexander Mayer
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Till Hass, Composer - Foto: Till Hass
Till Hass - mikrotonale klanginstallation - Foto: Alexander Mayer
Till Hass - mikrotonale klanginstallation - Foto: Alexander Mayer
Till Hass, Composer - Foto: Alexander Mayer